Daniel Marzona, Lange Sicht, Press release

Daniel Marzona is pleased to announce the solo exhibition of Britta Lumer.

In recent decades, Britta Lumer (b. 1965 in Frankfurt am Main) has generated a coherent oeuvre, mostly works on paper, that goes beyond what would be described as mere draftsmanship. Here, nothing figurative is grasped or epitomized and captured or preserved in an artistic depiction. Although her works on paper touch on figurativeness – not seldom with monumental views of bodies, portraits, architectures, and cityscapes – she always seems to drive her subjects to the verge of dissolution, of liquefaction. This intentional leap into the indeterminate corresponds with the use of painter’s means. For her large-format ink drawings, she constructed a fully mobile worktable, so that she can steer the liquid ink in all directions. For years, she tinkered with innovative work techniques, so that she can constantly seek anew a proper balance between what can be planned and what is random.

Thus, nothing in her pictures appears in a fixed place; every contour could always follow different paths. Doublings, linear shifts, pigment accumulations, and the course of light-dark contrasts reveal a degree of contingency that makes what is depicted seem strange to us and is nonetheless well suited for contemplative viewing. Instead of delivering finished projections, Lumer works out projection screens whose vagueness and delicacy prevents us as viewers from regarding what we see as a formulation of something already known. In front of Lumer’s pictures, we tread new, still unmapped territory and must slowly make our way through tear-like veils, expansive empty spaces, and the precisely formulated contours that appear in them, to gradually build up a relationship with what we see. If most contemporary figuration is umbilically attached to narration, Lumer’s pictures fundamentally refuse connection with a continuing tale – and they don’t need it, either. In auratic autonomy, the works stoically insist on the insight that nothing means anything from out of itself and that, anyway, a picture comes alive only if it manages to create a space in which the viewer recognizes himself as meant, without already having stridden through it entirely. In contrast to the flood of images that washes over us every day and the constant, meaningless reassurance of ourselves in the never-ending production and distribution of banal self-presentations, Lumer’s pictorial layerings show what, from an artistic standpoint, could be used to counter this stultifying, world-spanning image machine. Self-knowledge cannot ripen in the zone where the familiar is constantly perpetuated as something new, but only where we are provided a space where we can relate without prejudgment to the unfamiliar, the strange, and the open – and this is precisely the zone in which Britta Lumer’s work has its place.

Britta Lumer lives and works in Berlin. From 1992 to 1996, she studied at the State Academy of Fine Arts, Städelschule in Frankfurt am Main with Georg Herold and Per Kirkeby, then, until 1997, at the State Art Academy in Bergen with Luc Tuymans and Lawrence Weiner among others. Her works have been shown in diverse solo exhibitions in Germany and abroad and are found in many public collections.


Daniel Marzona freut sich, eine Einzelausstellung von Britta Lumer in der Friedrichstraße anzukündigen.

Britta Lumer (geb. 1965 in Frankfurt am Main) hat in den vergangenen Dekaden ein in sich konsistentes Werk erarbeitet, das sich zum Großteil auf Papier ereignet und sich dennoch nicht ohne Weiteres als ein zeichnerisches begreifen lässt. Denn hier wird nichts Gegenständliches gefasst oder getroffen und in der künstlerischen Darstellung festgehalten oder aufbewahrt. Stattdessen scheinen ihre durchaus ins Figurative spielenden Arbeiten auf Papier – nicht selten monumentale Ansichten von Körpern, Portraits, Architekturen und Stadtlandschaften – ihre Sujets jeweils an den Rand der Auflösung, der Verflüssigung zu treiben. Diesem beabsichtigten Sprung ins Ungefähre entspricht der Einsatz der malerischen Mittel. Für ihre großformatigen Tuschezeichnungen hat sie einen vollbeweglichen Arbeitstisch konstruiert, um die fließende Tusche in alle Richtungen dirigieren zu können. Jahrelang hat sie an innovativen Arbeitstechniken gefeilt, um eine stimmige Balance zwischen dem Planbaren und dem Zufälligen stets neu ausloten zu können.

So erscheint in ihren Bildern nichts an seinem festen Platz, alles an Kontur könnte grundsätzlich auch in anderen Spuren verlaufen. Doppelungen, lineare Ver-schiebungen, Pigmentansammlungen, Verläufe von Hell-Dunkel-Kontrasten offen-baren ein Maß an Kontingenz, das uns das Dargestellte fremd werden lässt und sich dennoch in gesteigertem Maße zur kontemplativen Betrachtung eignet. Statt fertige Projektionen zu liefern, erarbeitet Lumer Projektionsflächen, zu deren Vagheit und Zartheit wir uns als Betrachter nie so verhalten können, als ließe sich das zu Sehende als eine Formulierung von bereits Bekanntem deuten. Vor den Bildern Lumers betreten wir jeweils noch nicht kartografiertes Neuland, müssen uns langsam den Weg durch tränenartige Schlieren, großräumige Leerstellen und den darin aufscheinenden präzise ausformulierten Konturen bahnen, um nach und nach ein Verhältnis zum Gesehenen aufzubauen. Hängt ein Großteil der zeitgenössischen Figuration am Tropf der Narration, verweigern sich die Bilder Lumers grundsätzlich dem Anschluss an eine weiterführende Erzählung – sie brauchen ihn auch nicht. In auratischer Autonomie beharren die Arbeiten stoisch auf der Einsicht, dass nichts von sich aus etwas bedeutet. Ein Bild kommt ohnehin nur dann zum Leben, wenn es ihm gelingt, einen Raum zu schaffen, in dem sich der Betrachter als gemeint erkennen kann, ohne ihn bereits in Gänze durchschritten zu haben. Im Kontrast zu der uns alltäglich umspülenden Bilderflut, zu der permanten, sinnentleerten Vergewisserung unserer selbst in der nicht endenden Hervorbringung und Verbreitung banaler Selbstinzenierungen, zeigen Lumers Bildschichtungen, was dieser verblödenden, weltumspannenden Bildmaschine aus künstlerischer Perspektive entgegenzusetzen wäre. Nicht in der Zone, in der beständig Bekanntes als Neuheit perpetuiert wird, kann Selbsterkenntnis reifen, sondern nur dort, wo uns ein Raum gewährt wird, uns mit dem Unvertrauten, dem Fremden, dem Offenen in ein unvoreingenommenes Verhältnis zu setzen – und genau in dieser Zone hat die Arbeit Britta Lumers ihren Ort.

Britta Lumer lebt und arbeitet in Berlin. Von 1992 bis 1996 studierte sie an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste, Städelschule in Frankfurt am Main bei Georg Herold und Per Kirkeby. Anschließend bis 1997 an der Statens Kunstakademi in Bergen unter anderem bei Luc Tuymans und Lawrence Weiner. Ihre Arbeiten wurden in diversen Einzelausstellungen im In- und Ausland gezeigt und sind in zahlreichen öffentlichen Sammlungen vertreten.

Gerrit Gohlke, Refluence, BKV Brandenburgischer Kunstverein Potsdam,

Ausstellungsinformation

Würde man konsequent Britta Lumers künstlerischer Arbeitsweise folgen, wäre diese Information mit dem Bleistift geschrieben und ein Radiergummi läge ihr bei. Ihr Werk leistet stillschweigenden, aber entschlossenen Widerstand gegen unumstößliche Fixierungen – wie eine Folge trennscharf gedruckter Buchstaben auf Papier. Lumers Werk, aus dem der Brandenburgische Kunstverein eine vor allem auf die letzten sechs Jahre konzentrierte Zusammenstellung zeigt, ist eine entschiedene Distanzierung vom Vertrauen auf die Eindeutigkeit der Bilder. Ausgehend von einer lang jährigen Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie versetzt sie Zeichnungen mit Tusche und Kohle, aber auch mit Bleichmittel und anderen unorthodoxen Reagenzien in Zustände fließender Offenheit. So entstanden zuletzt Serien großformatiger Grafiken, in denen sich das Innere und Äußere der menschlichen Figur zu überlagern scheint. Alternativen zum manifest gewordenen Bild sind dabei nicht nur vorstellbar, sie sind im Werk selbst bereits angelegt. Verlässliche Perspektiven lösen sich dabei schon im Gestaltungsprozess auf. Aus der Bearbeitung des Papiers und der Pigmente mit chemischen und physikalischen Techniken, durch das Bleichen der Leinwände, den über die Papierebene geblasenen und wieder abgesaugten Kohlestaub entstehen skeletthafte Elemente, Fließ- und Wischspuren und rorschachhafte Überlagerungen, aus denen sich der Betrachter seine Wirklichkeit indizienhaft zusammensetzen muss. Zuweilen könnte man meinen, das zeichnerische Verfahren dringe dabei wie eine Röntgentechnik hinter unsere Vorstel-lung von Körpern und Physiognomien vor. Jede Linienführung, jeder Schatten nass in nass zusam-menfließender Farbverläufe scheint nur dazu gemacht, gedreht, gewendet und immer wieder neu beleuchtet zu werden. Wo fotografische Bilder im Moment des Auslösens eindeutige Urteile über die Wirklichkeit (und den Porträtierten) fällen, nimmt Lumer stattdessen zeichnerisch die Festigkeit der Entscheidungen zurück. Einzelne Bilder gibt es hier eigentlich gar nicht mehr. Sie sind nur die manifest gewordenen Punkte auf einer Zeitachse stets veränderlicher Prozessverläufe. Würde Farbe nicht trocknen und Wasser verdunsten, könnte man sich vorstellen, dass das zeichnerische Verfah-ren neu begönne oder rückwärts verliefe. Das herbeigeführte Gleichgewicht ist so irritierend fragil, dass die Selbstverständlichkeit plakativer Medienbilder plötzlich wie eine Dreistigkeit erscheint. So wird mit jedem weiteren Bild deutlicher, welche Zumutungen Fotografien an uns richten, die für den Sekundenbruchteil eines Aufnahmemoments mit aller Selbstverständlichkeit faktische Beweis-kraft in Anspruch nehmen. Es ist Lumers eigene biographische Erfahrung, in ihrer Kindheit hundertfach für kommerziell verwertete Porträtfotografien Modell gesessen zu haben. Ihr Werk ließe sich so auch als Korrektur einer Entfremdung deuten, der wir unterworfen sind, wenn wir uns in der Widerspiegelung von außen wiedererkennen, ohne uns mit den konstruierten Posen oder dem will-kürlichen Entscheidungsmoment der Aufnahme identifizieren zu können. In Lumers Werk werden alle Momente und Posen unterminiert. Was im technisch reproduzierten Bild als Augenblick und Ausschnitt isoliert ist, erscheint plötzlich fortsetzbar. Könnte man den abgebildeten Körper in der Vorstellung nicht auch ein paar Grad um seine Achse drehen? Und stellt das janusköpfige Profil da drüben nicht einfach zwei Aggregatzustände der selben Physiognomie zur Diskussion?Wenn die Künstlerin ihre Ausstellung „Refluence“ (wörtlich „Rückfluss“) nennt, bringt sie die Methode mit einem Kunstwort auf den Punkt. Der Titel beschreibt eine Wiederverflüssigung. Hier wird ein Einfluss aufgehoben, die Erstarrung aufgelöst und die Verfestigung zersetzt.Britta Lumers Zeichnungen verselbständigen sich zu Gegenbildern. Sie sind flüchtig, aber autonom. Unabgeschlossen, aber klar. Sie unterwerfen sich keinem festen Begriff und öffnen sich über das Bild hinausreichenden Zusammenhängen. Was Sie sehen, sind Gegenbilder zu allen Bildinszenie-rungen, Gegenmittel gegen falsche Eindeutigkeit. Ein Blick in die sozialen Netzwerke oder Nachrich-tenmedien zeigt, dass wir mehr solcher „Refluenzen“ bräuchten.